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Published on June 29, 2017
Es fing alles so an: Die Dünen darf man nicht betreten. Wir gaben der Sonne noch eine halbe Stunde. Wir kamen auf unseren Fahrrädern. Wir fuhren am Abend los und holten die ab, die kein Fahrrad hatten, sie setzten sich auf unsere Gepäckträger oder auf die Lenkstange und wir traten in die Pedale, wir fuhren Schlangenlinien, absichtlich. Die, die auf der Lenkstange saßen, pfiffen, und die auf dem Gepäckträger hatten die Beine weggestreckt, die Fersen knapp über dem Asphalt. Wir trugen alle lange Hosen, weil es bereits Abend war und abends wurde es kühl am Meer, wir wussten so viel. Unsere langen Hosen hatten wir so hochgekrempelt, dass man unsere Knöchel sehen konnte. Ich gebe der Sonne noch eine halbe Stunde, sagte Benjamin, also gaben wir alle der Sonne noch eine halbe Stunde. Wir sperrten unsere Fahrräder am letzten Laternenpfahl ab, dort, wo die asphaltierte Straße aufhörte und die Dünen begannen, im Norden. Im Süden waren wir nie.
Benjamin wusste, dass man die Dünen nicht betreten darf. Er erklärte uns, warum. Weil wir den Sand verschleppen würden, die Hügel würden abgetragen werden, die Vegetation in den Dünen sei wichtig, sie halte den Sand zusammen, diese verstaubten Büsche und Sträucher, die Dünen seien unser Schutz vor dem Meer, das Meer wisse sonst nicht, wo Grenze sei. Wir wussten, das Meer ist ein unerzogener Hund. Wir folgten Benjamin, wir gingen hintereinander und stiegen uns dabei auf die Fersen. Der Sand war weich und kühl. Das Meer sahen wir nicht, wir hielten Ausschau. Wir waren so durstig. Um uns herum waren nur Sandhügel und graues Buschwerk. Wir sahen verlaufene Fußspuren und waren zuerst beruhigt, dass wir nicht die einzigen waren, die hier unterwegs gewesen waren, dann wurden wir zornig deswegen. Ein Hase huschte vorbei. Manchmal hörten wir Musik in der Ferne und sahen weit weg eine rote Spitze; wir wussten nicht, was es war.
In den Dünen standen alte Bunker. Wir saßen auf dem Dach von einem, drehten unsere Köpfe in alle Richtungen und sahen in allen Richtungen etwas. Zum Beispiel erkannten wir, dass die rote Spitze zu einem Zirkuszelt gehörte, das auf einem Platz zwischen Wald und Dünen stand. Die Musik, die wir gerade vorher noch gehört hatten, musste auch von dort gekommen sein, aber der Wind hatte gedreht, vielleicht, wir hörten die Musik nicht mehr. Wir legten unsere Knöchel auf den Beton und manchmal lagen Betonbrocken einfach so herum, Stücke aus den Wänden des Bunkers. An den Bruchstellen waren sie rau, wie wir entdeckten, grobkörnig, und diese Unebenheiten drückten wir uns in unsere Haut, in unsere Fußsohlen, manche von uns. Möwen landeten auch hier und da und sahen uns ganz unverwandt an, aber wir störten uns gegenseitig nicht. Benjamin redete von all den parallelen Existenzen ohne Schnittstellen. Wir aber dachten an Baguette, das wir gerne mit den Möwen geteilt hätten.
Wir sind noch nie in einen Bunker hineingestiegen. Wir standen vor einer sauberen schwarzen, rechteckigen Öffnung und empfanden auch jetzt kein Verlangen, einzutreten. Heute nicht mehr, ein anderes Mal, sagte Benjamin für uns alle. Dann stellten wir uns in einer Reihe auf, Blick zum Horizont, und wir schwiegen, bis die Sonne verschwand. Danach waren wir erleichtert. Wir liefen den Hang zum Strand hinunter. Es wurde nun schnell dunkel. Die Lichter der kleinen Stadt waren noch fern und unsere Füße waren müde davon, durch den Sand zu stapfen. Das Meer neben uns wurde zu etwas, mit dem wir nicht in Berührung kommen wollten.
Wenn man uns fragte, ob wir hier gerne waren, sagten wir: Ja. Wenn man uns fragte, warum wir hier gerne waren, konnten wir so viele Gründe nennen. Wir sagten: Das Gurren der Tauben am Morgen. Wir sagten: Der Sand in den Haaren. Oder: Wir sind zu einem Geflecht geworden. Wir sind mit salznassen Haaren aus dem Meer gestiegen, haben uns zu einem Stern zusammengelegt, alle Köpfe zusammengesteckt. Es sind Filze entstanden, Knoten. Verstehen Sie, uns zu trennen, ginge nur unter dem Verlust unserer Haare. Und in der Zeit, in der wir hier waren, wurden unsere Haare immer länger. Unsere Nägel auch, sie wuchsen schnell, wir schnitten sie jede Woche, und das, was wir abschnitten, ließ uns an Silberfischchen denken, und sonst dachten wir nicht viel.
Den Sommer, in dem drei Autos ausgebrannt sind, verbrachten wir schon hier. Wisst ihr noch, wie wir morgens diese Straße hinuntergegangen sind, zum Bäcker, unsere Augen verklebt vom Schlaf, und da lagen nur mehr die blechernen Schalen, so ausgehöhlt. Auch den Sommer, in dem ein Haus durch eine Gasexplosion zerstört wurde, verbrachten wir hier. In derselben Straße die Balkone, die ausgefranst zur Erde hin hingen. Aber diesmal hatten wir bisher nur entdeckt, dass Benjamin die schönsten Knöchel hatte. Heute wissen wir nicht mehr, woran wir das festgemacht haben.
Abends stiegen wir wieder auf unsere Räder und holten uns gegenseitig ab. Wir standen vor Benjamins Haus und gurrten. Benjamin kam und fragte: Fahren wir in den Süden zu dem Wohnblock am Meer? Dort, wo wir am Strand lagen, konnten wir den Wohnblock jeden Tag im Süden stehen sehen, aber wir waren nie dort gewesen und wir verschwendeten keine Gedanken. Wir sagten: Wir sind noch nie im Süden gewesen. Und wir murrten, aber wir folgten. Wir fuhren. In einer Dreiecksformation. Benjamin an der Spitze, er saß auf der Lenkstange. Wir nannten ihn Die Gallionsfigur. Er sagte: Könnt ihr euch an den Moment erinnern, als wir diese Luftaufnahme gesehen haben. Von dem Wohnblock am Meer. Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie man uns gesagt hat, dass der Wohnblock evakuiert wurde. Das ist schon Jahre her. Dann schwieg er und wir dachten an diesen Wohnblock. Wir dachten, er hätte abgerissen werden sollen.
Dann standen wir vor dem Wohnblock, egalité, liberté, fraternité stand auf die schmutziggelbe Seitenwand gesprüht. Der Wohnblock war von Metallzäunen umgeben. Aber es sah nicht so aus, als würde sich jemand darum kümmern, dass die Metallzäune auch alle aufrecht stehen; manche waren umgekippt und hingen knapp über dem verdorrten Gras, ließen Abstände zwischen sich und dem nächsten Gitter zu. Es stand da auch noch ein Schild, Propriété privée, Défense d’entrer. Die Dünen darf man sowieso nicht betreten. Wir standen auf dem schmalen Streifen Strand zwischen Haus und Meer. Mit der Zeit hatte das Meer den Sand gefressen. Wir sahen auf die Frontseite dieses Betonkolosses, der über uns auf der Düne thronte, in dessen Schatten wir standen, und wussten nicht, was wir sagen sollten. Als wäre das alles nur für uns inszeniert worden: Die eingeschmissenen Scheiben, fast keine mehr ganz, die heruntergerissenen Jalousien, die quer und ausgefranst über Fenstern hingen, und dann die beschmierten Wände und Gläser mit immer denselben Sprüchen, merci Monsieur le maire, und auf einem Fenster sogar ein Hakenkreuz, l’océan a gagné und injustice, injustice, injustice.
Und Benjamin sagte, dass wir handeln müssten, dass wir zu passiv wären, wir wären immer nur die, die danach davon erfahren, in der Zeitung davon lesen. Und Benjamin fragte, warum wir so still seien. Und wir sagten, dass wir erschrocken seien. Dass wir wohl jahrelang neben diesen Zuständen unsere Sommer verbracht hätten. Und Benjamin meinte, das einzige, das ihn erschrecke, sei, dass wir nie etwas gemacht hätten. Wir sahen ihn an ohne Verständnis. Benjamin wusste nicht mehr als jeder einzelne von uns. Wir spürten, dass wir massenhaft Zeit verschwendeten.
Wir hörten tagelang nichts voneinander: Morgens wurden wir geweckt von der Sonne auf unserer Haut und dem Gurren der Tauben. Wir kauften Baguette und höhlten es aus, wir perfektionierten, wir höhlten so aus, dass man der Kruste nicht ansah, dass wir das weiche Innere herausgegessen hatten. Wir saßen am Poolrand und ließen unsere Beine ins Wasser baumeln, wir fanden es kalt, den Atlantik sowieso. Wir duschten uns und spürten, wie es uns den Sand aus unseren Haaren und den Rücken hinunterspülte. Wir häuteten uns, Landkarten blieben auf unseren Rücken zurück. Wir waren sehr viel nackt. Nachmittags trafen wir uns wieder. Wir kamen an einer Mülltonne vorbei und es stank meterweit und wir sahen den Fliegenschwarm, wir sahen, wie etwas unten an der schwarzen, großen Mülltonne hing. Es sah aus wie Gedärm. Wir wussten nicht, wie es dahin gekommen war.
Ein paar von uns klemmten ihre Surfbretter unter die Arme, fuhren einhändig, wir fuhren in den Süden. Als die Sonne unterging, warteten wir auf die nächste große Welle und ließen uns an den Strand spülen. Dort blieben wir liegen, ein Ohr im Sand, und wir warteten, bis das Wasser immer und immer wieder kam und uns einhüllte. Wir lachten und schluckten Salzwasser. Danach trockneten wir uns gegenseitig ab, wir zogen uns die alte Haut von Armen und Schultern und wunderten uns, dass wir darunter noch gebräunter waren, wir lachten immer noch. Die Bretter und die Fahrräder ließen wir liegen. Wir kletterten den Hang zu dem Wohnblock hinauf, hielten uns an dicken Kabeln fest, die aus dem Sand kamen, und woher sie kamen, wussten wir nicht, und wohin sie gingen, wussten wir auch nicht. Dann quetschten wir uns hintereinander durch eine Lücke im Zaun. Wir gingen in das Haus, wir stiegen die Treppen hinauf, wir gingen Gänge entlang, wir betraten Zimmer. Wir fläzten uns auf ein Sofa, in unserem Rücken ein Fenster mit Blick aufs Meer. Vom Land her wurde es dunkel. Wir kramten Streichhölzer hervor und zündeten sie an. Wir standen auf, machten ein Feuer. Dann gingen wir wieder. Wir stiegen die Treppe nicht schneller hinunter als hinauf. Draußen stiegen wir auf unsere Fahrräder, klemmten uns die Bretter unter den Arm und fuhren nach Hause, formationslos, ohne uns voneinander zu verabschieden.
Nach ein paar Tagen kamen wir wieder her und wir mochten den Anblick der geschwärzten Fassade. Wir waren Künstler. Wir suchten uns einen Ort, von dem wir einen guten Blick auf den Wohnblock hatten. Wir setzten uns in den Sand. Wir wunderten uns, dass unsere Haare immer noch nach Rauch rochen. Da sagte einer von uns leise: Stellt euch vor, da kommt wer und der sagt euch, ihr müsst bis morgen weg. Und wir drehten uns alle zu der Stimme, es war Benjamin, wir fragten: Und?Benjamin hatte den Kopf gesenkt, er hatte die Füße bis über die Knöchel im Sand eingegraben. Das Haus steht jetzt seit Jahren leer, aber immer noch steht es. Also begannen wir voll wilder Dringlichkeit zu warten, dass das Gebäude ins Meer stürzen würde. Wir wollten es nicht verpassen, wir waren so aufgeregt, wir zeigten uns gegenseitig unsere Gänsehaut. Wir wollten jede Einzelheit sehen. Wir leckten uns die Lippen, wir Aasgeier. Wir begannen also zu warten, obwohl wir wussten, dass nichts passieren würde. Heute sind wir nur mehr Gerippe.