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Published on May 19, 2016
Michael Wolf tippt den letzten Satz, klappt seinen Laptop zu und geht in den Keller. Unten empfängt ihn Stallluft und hysterisches Lachen. Er fragt, ob ich gut reingekommen sei. Ich keuche, er solle mich laufen lassen, ich habe ihm nichts getan, kenne ihn ja gar nicht. Michael Wolf sagt, genau das sei es ja, genau das, und kontrolliert die Stabilität des Gerüsts, an dem ich hänge. Es ist eine Sprossenwand, neun diagonale verbunden mit vier vertikalen Holzstreben. Unten splittert eine der Querstangen. Wenn es so weitergeht, wird sie die Belastung nicht mehr lange aushalten. Michael Wolf winkt mir zu und läuft die Treppe hoch. Er nimmt den Autoschlüssel vom Brett und steigt in seinen Corsa, um in den Baumarkt zu fahren. Erstmal aber wird er einige Runden im Kreisverkehr drehen. Michael Wolf liebt den Kreisverkehr. Nur dort fühlt er sich wirklich sicher in seinem Auto. Erst nach zehn Runden biegt er auf die Schnellstraße ab und gerät sofort in einen Stau. Da kein Gegenverkehr in Sicht ist, wechselt er auf die linke Spur. Neben ihm lassen sich die Opfer der Karambolage von Buchfinken die Augen auspicken. Das haben sie jetzt von ihrer Ignoranz, denkt Michael Wolf. Die Leute glauben, sie bräuchten die Schilder nicht mehr zu lesen, um gefahrlos von A nach B zu kommen. Klar, dass es da zu Unfällen kommt. Am schlimmsten seien die deutschen Autofahrer, pflichtet ihm der Polizistensohn bei. Die haben überhaupt keine Erfahrung mit Kreuzungen. Immer nur die Autobahn runterbrettern, bereite eben nicht auf die gefährlichen Stellen vor. Wenn es drauf ankommt, versagt der deutsche Fahrer. Da fällt ihm nichts mehr ein, wenn vor ihm an einem Mitsubishi oder Skoda der Reifen platzt. Und der Zigeuner, der diese Karre fährt, kann den Reifen wenigstens wechseln und ist ruckzuck wieder flott auf der Straße, während der deutsche Trottel auf Engel wartet. Über seine Wut vergisst der Polizistensohn, Michael Wolf zu fragen, ob er den Grund kenne, aus dem er ihn angehalten hat. Michael Wolf ist enttäuscht, er hätte das Rätsel gerne gelöst. So lässt der Polizistensohn ihn einfach fahren. Er ruft Michael Wolf noch hinterher, er solle einfach weiter fahren. Schließlich hat er auch zu tun und kann nicht den ganzen Tag den Verkehr regeln. Die Kriminellen der Stadt schlafen nicht. Der Polizistensohn fährt zu einem Gehöft, um einen Diebstahl aufzunehmen. Vor Ort sieht er sich einem Problem ausgesetzt. Der Bauer gibt an, eben kein Bauer zu sein. Er sei stattdessen Medienwissenschaftler. Das sei so Tradition in seiner Familie. Die Abkehr von der Land- hin zur Medienwissenschaft rühre von einem problematischen Verhältnis zu Geschwindigkeiten her, das sich über Generationen immer neu einstelle. Mit dem Vater des Vaters des Vaters des Medienwissenschaftlers fängt es an. Der kauft eines Tages einen neuen Esel, einen Turbo-Esel, wie man ihm versichert, geringer Verbrauch bei 2 Pferdestärken. Der Vater des Vaters des Vaters des Medienwissenschaftlers ist zunächst misstrauisch, aber wenn er den Esel nicht kauft, muss er nach Hause laufen und es ist schon spät. Er feilscht noch ein wenig, bekommt einen Sattel kostenlos dazu und besiegelt das Geschäft. Kaum besteigt er aber den Esel, rennt der wie wild los und wirft den Vorfahren ab. Dieser hat daraufhin genug von der Landwirtschaft und sattelt auf Medienwissenschaft um. Der Sohn des Vaters des Vaters des Vaters des Medienwissenschaftlers bleibt seiner Scholle zunächst treu, besinnt sich aber wenige Jahre später ebenfalls eines Besseren, als er, von tieffliegenden Amseln irritiert, mit seinem Zweispänner aus einer Kurve fliegt. Der Vater des Medienwissenschaftlers wiederum verliert beide Beine beim Versuch, dem Mähdrescher auszuweichen und dessen Sohn, der Medienwissenschaftler, will seinen Hühnern die Belastung des täglichen Eierlegens nicht mehr zumuten. Er sei daher ganz sicher kein Bauer, sondern schon familiär bedingt vielmehr Mahner vor einer voranschreitenden Dynamisierung aller kulturellen Sektoren, bei der früher oder später auch der Schnellste nicht mehr mitkomme. Wenig überzeugt deutet der Polizistensohn auf die schmuddeligen Gummistiefel des Medienwissenschaftlers. Und was damit sei, fragt er. Die brauche er für seine Forschung, versichert der Medienwissenschaftler. Die Stiefel kaufe er immer im Baumarkt. Das dauert lang. Stundenlang hält er sich in der Holzabteilung auf und schneidet dicke Spanplatten zu. Immer vier Meter mal vier Meter breite wie lange Platten. Er braucht die Platten für seine Laienperformancegruppe. Sie treffen sich samstagabends auf seinem Hof und reenacten Samuel Becketts Fernsehstück Quadrat II. Früher haben sie Quadrat I geprobt, aber das sei ihm einfach viel zu schnell, erklärt der Medienwissenschaftler Michael Wolf, auf den er zwischen Hobelwaren und Spaxschrauben trifft. Quadrat II sei schon anspruchsvoll genug. Obwohl sie bereits mehrere Jahre proben, ist das Stück bislang noch nicht zur Aufführung gekommen. Das Ablaufen der Quadratseiten ist leicht, das Problem sei die Diagonale. Er müsse sich so sehr darauf konzentrieren, synchron abzubiegen, dass er in der Mitte häufig von den anderen überrascht werde. Dann komme er mit dem Ausfallschritt durcheinander. Man müsse bei Quadrat II ja immer links aneinander vorbei laufen, aber in der Aufregung verwechsle er die Seiten leicht. Es gebe deswegen häufig blaue Flecken und auch Streit in der Gruppe. Ist ja auch ganz schön schwierig, merkt Michael Wolf an. Sehr richtig, stimmt ihm der Medienwissenschaftler zu. Die Medienwissenschaft sei ohnehin eine sehr schwierige und nicht ungefährliche Disziplin. Immer mal wieder gehe etwas kaputt. Er habe sich erst kürzlich neue Waden zimmern müssen. Zum Beweis hebt der Medienwissenschaftler sein Hosenbein an und entblößt deutsche Eiche. Beeindruckt fragt Michael Wolf, ob er die Wade mal anfassen dürfe. Greifen Sie zu, fordert der Medienwissenschaftler ihn auf und Michael Wolf klopft kräftig auf ein Astloch. Der Ornithologe tritt hinzu und belehrt die beiden, Spechte seien gestreckt gebaute Vögel mit starkem, geradem, kantigem Meißelschnabel, der besonders bei den echten Spechten fast so lang wie der Kopf sei. Michael Wolf gibt ihm recht. Sie haben so recht, sagt er, und dass es toll sei, einen echten Ornithologen zu treffen. Ich beobachte Vögel, sagt der Ornithologe und wieder stimmt Michael Wolf zu. Der Medienwissenschaftler überwindet seine Scheu und fragt den Ornithologen, ob er denn schon einmal einen Vogel bei etwas beobachtet habe. Der Ornithologe versichert dem Medienwissenschaftler, er beobachte Vögel ständig bei etwas. Ausgezeichnet, stimmen Michael Wolf und der Medienwissenschaftler überein. Der Ornithologe führt die beiden zu einer Leinwand, auf der ein Werbefilm des Baumarktes abläuft. Darin räumt der Ornithologe die verwesenden Reste einer Festtafel auf. Nacheinander wirft er ein Wachtelpaar, ein domestiziertes Perlhuhn, einen Schwan europäischer Art und mehrere Rostgänse in einen gelben Sack und deckt den Tisch mit hölzernen Nachbauten der Tiere neu ein. Der Ornithologe übt lange für die Rolle. Als Anhänger des Method-Acting arbeitet er in einem Beerdigungsinstitut. Seine Aufgabe besteht darin, die Schrauben in den Särgen nachzuziehen, damit die Leichen nicht wieder heraussteigen. Da können sie klopfen und zetern wie sie wollen. Tot sei schließlich tot. Wo kommen wir denn hin, wenn sich keiner an die Regeln hält. Obwohl er seine Aufgabe zu voller Zufriedenheit ausführt, glaubt der Ornithologe, dass er sich in die Rolle des Bestatters noch nicht richtig eingefühlt hat. Nur Mut, Sie werden schon noch der Bestatter, muntert ihn Michael Wolf auf. Er hat den Werbespruch der Kampagne — Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein / Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein — erfunden und träumt nun von eine Karriere als Drehbuchautor. Wir können zusammen arbeiten, schlägt er dem Ornithologen vor. Im Film fahren die beiden zum Vater des Bestatters, um dessen Testament zu empfangen. Auf dem Weg scheint sich die Welt gegen die beiden verschworen zu haben. Sie sind in einen Autounfall verwickelt und müssen die Reise zu Fuß fortsetzen. Sie werden Zeugen von weiteren Unfällen, sehen endlose Staus und werden von Wegelagerern in Form von Pseudo-Philosophen belästigt. Die Premiere findet in Michael Wolfs Keller statt. Der Bestatter schmiert meine Handgelenke mit Pferdekühlgel ein. Michael Wolf füttert mich mit Popcorn aus einem Futtertrog. Was ich davon halte, will er wissen. Ich flehe, er solle es doch einfach zu Ende bringen. Michael Wolf sieht mich überrascht an. Das sei nur der erste Teil gewesen, sagt er, wechselt die angeknackste Strebe aus und zieht die Schrauben nach. Am Ende des Films werden der Bestatter und Michael Wolf von einer Kannibalenbande gefangen genommen und schließlich von dessen Anführer, einem Professor der Universität Washington, verspeist. Auf der Beerdigung schreibt der Medienwissenschaftler eine euphorische Kritik. Das filmische Vermächtnis Michael Wolfs und des Bestatters beleuchte die alten Fragen nach Geburt und Tod sowie der Zeitspanne dazwischen ganz neu. Im Lichte des Projektors werden wir Zeuge der vergeblichen Bemühung, in einer Welt, in der bereits alles erzählt wurde, die eigene Existenz aus der Müllhalde des kulturellen Gedächtnisses heraus zu entwerfen. Der Streifen sei ein Roadtrip durch die Ateliers der Alten und Neuen Meister Europas. Die Bildsprache erinnere in ihren raffinierten Arrangements an Diego Velazquez, in ihrer unerbittlichen Eindrücklichkeit an Frans Snyders. Die lakonische Sprache der Figuren stehe in ihrer Gleichzeitigkeit von Komik und Tragik in nichts den Theaterstücken nach, die Franz Kafka nie geschrieben habe. Die mutige Dramaturgie transformiere das Frühwerk Jean-Luc Godards ins Hier und Jetzt. Insbesondere lebe der Film aber von der lustvollen Darstellung seiner Figuren. Michael Wolf habe als Polizistensohn seine Paraderolle gefunden. Auch der Bestatter überzeuge durch Textsicherheit und Mut zum Pathos. Der Ornithologe legt das Feuilleton zur Seite und wird auf die Kurzmeldungen im Lokalteil aufmerksam. In einem Vorort ist eine Ziege gestohlen worden. Der geschädigte Medienwissenschaftler habe zur Tatzeit auf dem Hof mit seiner Laienperformancegruppe geprobt. Dabei sei es zu Streit gekommen, sodass der Diebstahl zunächst nicht bemerkt wird. Es sei die Mitte des Quadrats, die ihm Probleme bereite, gibt der Medienwissenschaftler zu Protokoll. Ein zufällig in der Nähe Vögel beobachtender Ornithologe habe allerdings etwas Verdächtiges bemerkt. Ob er etwas beobachtet habe, fragt der Polizistensohn. Der Ornithologe sagt, er habe Buchfinken beobachtet. Ausgezeichnet, aber habe er vielleicht noch mehr beobachtet, lässt der Polizistensohn nicht locker. Der Ornithologe beobachtet die Buchfinken auf einer nahen Unfallstelle, als ein blauer Opel Corsa auf dem Feldweg hält und mehrmals hupt. Eine Ziege entfernt sich von ihrer Herde und bewegt sich auf den Wagen zu. Der Ornithologe denkt sich nichts Böses und widmet sich wieder den Buchfinken. Diese werden bald darauf von dem mit hoher Geschwindigkeit abfahrenden Corsa verscheucht. Als der Ornithologe daraufhin die Weide nach Krähen absucht, muss er feststellen, dass die Ziege verschwunden ist. Das sei alles. Wenig später haben die Buchfinken die Unfallstelle wieder übernommen, bis der Bestatter sie abermals von den Kadavern verjagt. Der Bestatter räumt die Körper vom Tatort. Einige Leichenteile wehren sich mit Händen und Füßen, aber der Bestatter ist unerbittlich. Rasch wirft er all die menschlichen Überreste in einen Eichensarg. Heute will er zeitig nach Hause, um sich für eine Rolle in einem Werbespot vorzubereiten. In dem Video spielt er einen Ornithologen, der vorgibt, Vögel zu beobachten, in Wahrheit aber in einem Fall von Wilddiebstahl ermittelt. Die Suche treibt ihn immer weiter von seinem eigentlichen Ziel ab, weshalb er am Ende seinen Fall zu den Akten geben muss, dafür aber einem einzigartigen Plagiat auf die Spur kommt. Ich habe nicht abgeschrieben, beteuert der Polizistensohn. Was das dann sei, fragt der Bestatter und reißt ihm den Strafzettel aus der Hand. Der Polizistensohn winkt ab. Das sei nur für seine Recherche und er werde es keinesfalls gegen den Bestatter verwenden. Das werde er sicher nicht, ruft der Bestatter und zerreißt das Papier in kleinste Teile. Der Polizistensohn stürzt zu Boden und sammelt die Fetzen auf. Der Bestatter wirft sich auf den Polizistensohn und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Eine Trauermeise lässt ihren Kot auf die Rangelei fallen. Michael Wolf beobachtet den Fall durch seinen Feldstecher. Gerade noch fünf Meter trennen den Kot von den Kontrahenten, als der Medienwissenschaftler mit seinem Trecker in die Szenerie platzt. Der Polizistensohn und der Bestatter werden von der Wucht des Aufpralls in alle Winde zerstreut. Der Kot der Trauermeise fällt traurig auf die Windschutzscheibe des Treckers. Der Medienwissenschaftler zerbricht diese und wird von den Treckerrädern mehrmals durchgeteilt. Die Streithähne stöhnen ermattet. Michael Wolf nimmt den Schlüssel vom Brett und lädt eine vier Meter breite und vier Meter lange Spanplatte aus seinem Kofferraum aus. Mit seinem Holzarm ist es mühselig, die Glieder neu zu verbinden. Auch findet er nicht alle Teile. So dauert es eine Weile, bis er die drei neu sortiert hat. Die Lücken überbrückt er mit Spanplättchen. Am Anfang war das, sagt der Medienwissenschaftler, Und Action, sagt der Ornithologe, Die Würde des Menschen, sagt der Polizistensohn, Und bitte, sagt Michael Wolf, als alle auf Position sind. Die vier kriechen sehr flüssig um die Ecken und in der Mitte aneinander vorbei, es gibt kaum Unfälle oder Streit. Nach der Probe verabschieden sie sich eilig. Es gebe ja noch so viel zu tun. Michael Wolf geht in den Keller. Ich flehe ihn an, er solle mich laufen lassen und dass ich niemandem hiervon erzählen werde. Er reibt meine Fußsohlen mit angefeuchtetem Salz ein, das mir die alte Ziege wieder ablecken und mich dadurch kitzeln muss, dass ich vor Lachen zerbersten möchte. Wieso das alles, schreie ich atemlos. Michael Wolf grinst feist und geht die Treppe hoch. Er nimmt eine Stufe mit dem rechten, eine mit dem linken, die nächste mit dem rechten und die folgende mit dem linken Fuß. Oben angekommen setzt er sich an den Schreibtisch und klappt seinen Laptop auf.