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Published on December 1, 2014
Während ich am Manuskript für den Roman Schluckspecht saß, reiste ich drei Mal nach Wales, die Leute kennenlernen, die Landschaft anschauen, mich dort bewegen, wo mein Idol Dylan Thomas einst lebte. Ich sah mich um. Ich besuchte die Pubs von Dylan. Ich dachte viel darüber nach, wie es mit mir so war, wann ich Interessen ausbildete, die mich mein Leben lang begleiten würden. Es war in Wales, als ich mir darüber klar wurde, ein Schreiberling und Säufer nahezu zeitgleich geworden zu sein. Zwei Talente. Zwei Hobbys, die Berufung werden. Zwei Stränge über die Stränge zu schlagen. Zwei Seelen, ach, in einer Brust.
Mit meiner Entlassung aus dem Kinderheim, mit dem ersten Tag bei den Adoptionseltern begann ich mich für zwei Dinge zu begeistern, erstens: Bücher lesen und erstens: Alkohol trinken. Ich wollte immer schon Schriftsteller sein und meinte, ich müsste erst ein Trinker werden wie Malcolm Lowry, mein allergrößtes Vorbild. Der fuhr zur See, wie ich gern als Kapitän oder Seeräuber über die Meere gesegelt wäre. Und landete, wo Landgang war, über kürzeste Umwege in sämtlichen Kneipen der unmittelbaren Umgebung. Man fährt übers Meer und wankt dann unsicher auf knickrigen Beinen.
Ich bestand sehr früh aus zwei Neigungen. Die Neigung für Bücher, das Lesen, die Neigung zum Suff, dem Trinken. Die Bücher, die ich las, waren auf dem Dachboden in Kleiderschränken gestapelt, in Kisten und Koffern untergebracht. Ich musste sie stets so hinterlassen, dass niemand in der neuen Familie meine ungestümen Stöbereien bemerkte. Die Schnapsflaschen lagerten im Keller. Ich musste immer dafür sorgen, dass sie versiegelt, zugekorkt aussahen und was ich beimengte, musste haargenau, nicht nur ungefähr die gleiche Farbe vom Inhalt aufweisen. Ich hätte auch gut ein Mischgetränkzauberer werden können.
Ich wurde mit den Büchern intim. Ich vergaß die Pubertät lang die Mädchen. Ich kann Bücher querlesen. Mit den Mädchen kann ich nichts anfangen. Ich mag ihr Gegacker nicht. Ich liebe die Ruhe über den Buchseiten. Wenn ich etwas auf meiner Sauftour mitbekommen habe, so diesen einen Satz: Trinken verlangt Ausdauer, und: Der Trinkzwang geht dem Schreibimpuls voraus. Ich wollte schreiben und lernte zuerst das Saufen. Ich saß am Schreibtisch wie in einer irischen Trinkerzelle. So ein Eckchen, von Heinrich Böll beschrieben, in dem der Säufer hockt, wenn er niemanden sehen will, Menschen nicht erträgt oder der Wirt ihn verfrachtet, wenn der ihn nicht erträgt und seinen Gästen nicht zumuten mag. Da drückst du auf den Knopf und gibst deine Bestellung ab, und bekommst dein Guinness durch die ziegelsteinhohe Durchreiche.
Ich liebte einzelne Sätze in den Büchern, die ich mir aufschrieb und unterm Kopfkissen aufbewahrte. Ich liebte es, Neigen zu trinken. Der Gedanke, dass jemandem vor mir mein Neigen-Drink gemundet hatte, bereitete mir zusätzlichen Genuss, besonders wenn Lippenstift am Glas zu sehen war. Himmlische Momente. Kinder. Denkt bitte nicht, das wäre so einfach. Saufen und Schreiben. Dylan Thomas, den ich sehr schätze, meinte saufend, er könne mit dem Trinken jederzeit aufhören. Wie kann man nur so von sich überzeugt sein. Und trank dann munter weiter im Bewusstsein, der poetischen Veranlagung zu dienen, wie er es einmal einem Saufkumpel gegenüber formuliert haben soll.
So zu saufen wie ich, ist kindisch zu nennen. Man giert danach, wie man nach Süßigkeiten giert. Man gewöhnt sich daran, wie man sich an Handschuhe im Winter gewöhnt. Man braucht Bücher, borgt sie sich aus, stiehlt sie aus Läden, kauft sie, wenn sie billig sind, vom eigenen Geld. Man säuft, man bettelt, man lässt sich auszahlen, schnorrt Alkohol, macht alles, eine Flasche zu gewinnen.
Charles Bukowski gefiel am Suff, dass er ihm Chaos, Verrücktheit und tolle Vorkommnisse beschied, Sachen, die er einfach aufschrieb, fertig. Ob er ohne Suff dichterischer gewesen wäre, war nicht Gegenstand der Diskussion um seine Person. Der Rauschzustand als sein permanentes Alltagserlebnis, so ließ er es für uns aussehen. Aber der versoffene Buk war immer auch wieder lange Zeit trocken genug, die Belastungen durchs Leben und die Lesungen locker zu bestehen. Seine Fotografen fotografierten ihn mit grobkörniger Linse und voller Absicht. Immer nur schwarzweiße Unschärfe. Bald schon konnte sich niemand seinen Buk ohne Büchsenbier in der Faust und in Farbe vorstellen.
Ich bin nicht dazu gekommen, Bücherschreiber widerlich zu finden, von Säufern nichts zu halten. Ich habe den Säufer bewundert, wenn er über die Gehwege und Straßen getorkelt ist, minutenlang auf einem Bein stand und selbst bei äußerster Schräglage nicht umkippte, sondern vorwärts drängte, im Schneckentempo und der Eleganz einer Senfgurke beim Tanz. Und Günter Bruno Fuchs, den ich erst im Alter von dreißig Jahren las, hätte ich nie für einen Alkoholiker gehalten. Anfangs, zugegeben, dann schon. So schön, wie er über Menschen schrieb, war das nicht von ihm zu denken. Suff und Hässlichkeit beschreiben gehört zusammen. Er aber schrieb so überschwänglich, meinte ich, von den Menschen. Menschen, die Vögel werden können. Menschen, die sich in die Lüfte erheben und dann mit der Muskelkraft ihrer Arme fliegen.
Ich bekam beim Lesen des Gedichtes Knurrende Männer am Kinderspielplatz eine Ahnung davon, dass Bruno säuft. In diesem bösen Gedicht regen sich alte Säcke, die nur besoffene, alte Säcke sein können, über ein Kind mit Sommersprossen und Segelohren auf, nur weil es sie nach der Uhrzeit befragt. So ein Gedicht schreibt man nur im bösen Zustand, vor, während, nach dem Delirium. Und schämt sich danach nicht einmal dafür. Seither mag ich Fuchs ein wenig weniger, aber immer noch genug.
Ich kenne aus meiner Jugend einige Zustände, die mich wild sehen. Ich will saufen und es ist nichts mehr zu saufen da. Ich stelle alles auf den Kopf. Ich durchsuche jeden Winkel, umsonst. Ich gerate in Wildheit, aus welcher heraus ich morden könnte. Ja. Im Ernst. Jedenfalls habe ich oft genug Angst davor gehabt, ein Mörder zu werden.
Vom sich geheimnisvoll gebenden, ständig versteckt haltenden Thomas Pynchon dachte ich sofort: Der säuft und wird verrückt wie ich, wenn nichts mehr da ist. Der will in Ruhe gelassen werden. Der will schreiben. Der säuft nicht viel anders, als Stephen King säuft, der auch nur in Ruhe gelassen sein will, weil er das Schreiben liebt. Und dann sind die dicken Wälzer gestemmt und beide informieren sie ihre Leser über die Begegnungen mit den Dämonen am Schreibtisch.
Ich bin, wenn alles im Haus schlief, in die Ecken geschlichen, in denen ich Alkohol erwarten durfte. Ich schlief in Kellern der Leute, bei denen ich zu Besuch war, angeblich, weil ich Keller liebte. Und durchsuchte die Keller nach Trinkbarem. Von Pynchon hörte ich zum ersten Mal aus Adolf Endlers Munde, dessen Lobgesang nach Fusel roch. Denn auch Adolf Endler soff und wurde mein erstes Schreiberling-Idol. Ich fand es schick, mich so zu benehmen wie er. Ich ging fortan wie er mit einer Textmappe im Einkaufsnetz in der Hand und zwei Rotweinflaschen. Ich zog so aus zu meinen eigenen Lesungen. Ich las einen Schluck, einen Absatz lang meine Texte vor. Ich trank dann mehr, als ich Bücher las. Alles, wie ich es bei Endler gesehen hatte. Ich denke, ich wurde wegen Adolf Endler zum Säufer. Ich musste mir jahrelang die Edi-Endler-Macke auskurieren. Der Tortur verdanke ich meinen liebsten Trinkerroman Schluckspecht. Immerhin etwas, Edi, worauf wir beide stolz sein sollten.
Ich schmeckte nach gewisser Zeit den Alkoholgehalt der Bücher. Den Zustand, unter dem sie geschrieben wurden, kann ich mit der Zunge herausfinden. Ich sehe es den Seiten an, wie man durch ein Glas schaut, in dem Schnaps wabert. Das kann man nur herausbekommen, wenn man selbst ein Säufer ist. Das kann man auch erst richtig nachvollziehen, wenn man lange genug an der Flasche hing. Das ist dann eine Sache wie unter Kollegen. Wir saufenden Schreiberlinge lassen es uns gerne anmerken, wie versoffen wir sind. Das Schreiben ist dann wie die Fahne, die die Schwulen und Lesben zum Fenster heraushängen lassen.
Die Literatur ist nichts anderes als eine geschlossene Abteilung. Einer sitzt ein, der Rest kreist ständig ums Kuckucksnest. Jack London ist nach eigenen Angaben bereits im Alter von fünf Jahren mit dem Bierkrug zum Vater aufs Feld gegangen. Und fürs Tragen hat der Alte ihm dann erlaubt, ein paar Hiebe zu nehmen. Unterwegs schon habe der pfiffige Junge den Bierkrug erleichtert, dass er weniger zu schleppen hat. Und einmal kam er mit dem Humpen gar nicht mehr beim Papa an, sondern sackte halbwegs besoffen zusammen, war herrlich besinnungslos betrunken, wie er schreibt.
Ich habe mich recht bald dazu entschlossen, kein Geheimnis aus meinen Veranlagungen zu machen. Ich las Bücher im Freien. Ich trank im Freien. Ich rezitierte ganze Absätze aus den Büchern. Ich schwärmte offen für polnischen Wodka mit Grashalm. Natürlich ist es primitiv, sich auf diese Weise darzustellen. Aber womit als mit Lesestoff und Sufferfahrung soll man sich interessant machen, wenn sonst nichts los ist in einer eintönigen Kindheit. Und also begab sich Jack in die Kneipen, dort Geschichten einzufangen. Nach außen hin der Schreiberling. Nach innen drauf und dran, ein Trinker zu werden. Weil in den Kneipen Aufregendes passierte, wenn die Leute schimpften, tobten, lärmten, lachten, redeten, sich in die Haare kriegten, laut wurden, sich der Prügelei widmeten. Dabei sein, wenn es wild wurde, die Betrunkenen stolperten und übereinander herfielen, Pack sich mit Pack anlegte und wieder vertrug, mit immer neuerlichen Runden unter Geschrei.
Die Zeremonie ist Teil der Kultur. Ich bin Handwerker. Deshalb habe ich mich immer in der Nähe von Buchläden angesiedelt und über Kneipen gewohnt. Ich war neidisch. Ich wäre gerne wie Jack London im Land der Kneipen unterwegs gewesen. Geld verdienen, Geld verschleudern. Und Saufwettbewerbe öffentlich austragen. Glas auf Glas. Mann gegen Mann. Einer gegen alle. Ich weiß heute eines ganz sicher: Jack London trank aus Erkenntnisdrang bis zur Unkenntlichkeit. Im Leben kann man sich eines unliebsamen Menschen durch kluge Sprüche entledigen. In der Kneipe braucht es schon die Novelle.
Ich wäre früher und in dem richtigen Land wohnend, sagen wir Frankreich, wohl ein Absinthtrinker geworden. Ich hätte den Geschmack gut gefunden. Absinth wird vom Kosenamen grüne Fee liebkost, ist also weiblich gepolt. Das hätte mir gefallen. Man trinkt die Frau und muss nicht mit ihr rumsitzen, schöntun, aushalten. Mir gefiel in der Jugend eine Geschichte. In ihr wird von einem Absinthgenießer berichtet, der jeden Tag ein Dutzend Gläser Feenschweiß hinter die Binde gießt. Er hat es zur Berühmtheit in den Absinth trinkenden Kreisen gebracht. Sonst hat er so gar nichts weiter Ruhmvolles hinterlassen. Keinen Bierdeckel erfunden, keinen Gastsimulator gebaut oder etwas ähnlich Tolles veranstaltet. Nichts. Einfach nichts. So wollte ich auch werden. Mein Leben lang nur dem Glas ergeben.
Das soziale Milieu formt den Säufer, sagte ich mir schon im zarten Jugendalter. Darüber ist man sich auch in der Wissenschaft einig. Das große Heer der Alkoholiker unterscheidet sich im großen Ganzen durch nichts, im Einzelnen aber auch nicht viel entscheidender. Obwohl die Masse der Säufer ähnlich ausschaut, ist jeder Säufer von jedem anderen Säufer so genau zu unterscheiden wie ein Fingerabdruck von einem anderen. Ja, ja. Und niemand ist mit keinem auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. So sieht es aus. Die meisten saufen zuhause.
Ich bin ein Flaschenkind. Ich lehne Plastik ab. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Ich habe mich vom Alkohol ein wenig befreit. Ich hoffe nicht auf meine Enkel. Ich sorge für innere Reinheit. Ich muss nicht mit anderen Leuten übereinstimmen. Ich habe mich saufend nie verflucht. Alle Bücher haben mich erstklassig ausgebildet. Ich bin vorbildlich ausgestattet. Ich kann halbwegs weise sterben. Ich habe das Leben wie einen Gesang absolviert. Ich werde versuchen, bis zum Schluss zu schreiben. Ich habe noch nie einen Baum gefällt. Ich werde meine drei Gläser Wein trinken. Ich will alt werden. Ich möchte meine Landessprache über den Tod hinaus mögen. Ich schrieb und ich trank mir zu Ehren.
Alfred Jarry, heißt es, hat, wenn er dem Absinth abhold war, grüngeschminkt auf dem Fahrrad eine Performance hingelegt, sich selbst und seiner holden Fee zu huldigen. Was Dylan Thomas uns auf den unheilvollen Weg gibt, ist sein Werk. Unter dem Milchwald hat einen Alkoholgehalt von mehr als fünfzig Prozent, möchte ich sagen. Und ich darf das auch so behaupten. Denn ich bin Schreiberling geworden, Säufer gewesen und kann mitreden. Bilde ich mir jedenfalls ein. So nüchtern wie ich heute über Monate bin. Mehr jedenfalls als alle Nichttrinker, Nichtpoeten. Für mich und Dylan Thomas gilt gleichermaßen: Man ist ein genialer Säufer, wenn die Menschen dich trotz deiner Trunkenheit, einfach bloß deiner Texte wegen lesen, sich für dich und deine Schreibe begeistern.
Ich habe mehr geschrieben als gesoffen. Das ist der Unterschied. Ich werde im Leben nicht, und erst recht nicht nach dem Leben ein so berühmter Säufer wie Dylan Thomas sein, den ich des Saufens wegen verstehe, der Texte wegen vorrangig aber verehre. Er hat sich trinkend ins Abseits gestoßen. Und ich denke, bei ihm gilt, was immer gelten wird: Man kann literarisch nicht Säufer sein und saufend kein Literat von Format werden. Für mich war Dylan von Beginn an ein Wilder im Freien, ein Energiebündel. Und daheim, wo man ihn kannte, wo man ihm nicht alles abnahm, war er dann phasenweise nichts weiter als ein schlapper Wicht von Traurigkeit, wie er in keinem Buch steht. Ein stiller Säufer am Tresen. Die Ellenbogen aufs Holz gelegt. Und je länger er dort steht, umso öfter muss er an die Pissrinne treten, und bekommt immer seltener den Kopf in die Richtung gedreht, aus der er angesprochen wird.
Wer sich zu entscheiden hat zwischen Alkohol und Literatur, verliert, wenn er sich nur für eines entscheidet. Man schreibt, an Geld zu kommen, und trinkt, sich die wilden Phantasien zu leisten. Der großen Kunst folgt die in Alkohol getränkte Erschöpfung nach.
Mein literarischer Bruder, du, ach, Dylan. Ich habe ein Buch von dir gelesen. Das Leben eines Künstlers als junger Hund. Du kennst es. Dir muss ich nichts dazu erzählen. Ich war so aufgeregt, als ich nach Swansea kam. Allein mit deinem Buch. Ich stromerte herum, war am Hafen, stand der Figur gegenüber, deinem Kapitän Cat. Und lief dann an den Strand, zwischen Dünen, mit Blick auf die Bucht, das Meer, den weiten Strand.
Und sah diese riesigen, braunen, schwarzsilbrigen Muscheln. Nie zuvor gesehen. Wie sie sich in einer Rinne um den Leuchtturm sammelten, dass ich nur noch zugreifen musste. Ich lief die Promenade entlang, den Strand entlang, bis ich nicht mehr laufen mochte, stehen blieb, mich umdrehte, einen anderen Weg zurück zu nehmen anging. Den Weg ins Zentrum, am Gefängnis vorbei, über Parkplätze, an Supereinkaufshallen vorbei, Abrissflächen, Kirche, Hotel, in die Windstreet. Dort, wo die No Sign Bar liegt. Das Lokal mit den Muscheln, die ich seit meinem Erstbesuch hier immer wieder so gerne als Begrüßungsmahl esse.
Gott, deine Straße war ein Tummelplatz. Polizei war zugegen. Polizei stand in Gruppen bereit. Die Straße war abgesperrt. Ein erschreckliches Dorado herrschte. Jungen, Halbstarke, Mädchen, Backfische, die schrecklich besoffen waren. He, Dylan, alle saufen sie wie du und können aber nicht eine vernünftige Zeile schreiben wie du. Nur Trunkenheit ohne Anspruch an sich selbst. Nur Wanken, Torkeln, Kotzen. Nur lautes Geschrei und laute Verblödung. Nichts für zartbesaitete Seelen. Ein dürres Mädchen zog sich fast vollständig aus. Beim Versuch, den Ausweis in einer Hautspalte zu fischen, fiel es um, du wumm. Passanten torkelten herum, wie eben aus dem Bett gefallen. Es hieß, hier trieben entschlossene Weibergruppen ihr Unwesen, suchten Männer einzufangen, würden versucht sein, sie betrunken zu kriegen, und diese dann zu ihren Kleinbussen schleppen, dort einzusperren, sich an ihnen zu verlustieren, solange sie im Suff sind und nichts von der Entführung merken. Es heißt, sie nehmen sie aufs Land mit, wo die armen Teufel dann erwachen und von den geilen Weibern geschändet sind, inmitten von kalter Lust gebettet.
In einer schmalen Seitengasse sah ich sie trinkend laut und frech agieren. Das lockte mich. Deine Stadt der Versoffenheit. Dein Name wird genannt. Dein Werk kennt kaum jemand. Du könntest auch ein Wolfsbarsch sein. Sie würden dich ausnehmen, das Beste an dir wegwerfen.
Ich näherte mich ihnen. Ich sagte ein Gedicht von dir auf. Das mit dem Tod und dass er keine Chance haben soll im Leben. Ich weiß, das magst du nicht so sehr. Sie klatschten nicht. Sie schütteten mir süßlichen Schnaps ein, den ich auf ihr Wohl und die Gesangskunst, die sie am Karaokemikrofon vollführten, erhob und um mein Leben fürchtete. K.O.-Tropfen, Betäubungstrunk, dachte ich. Man stellt sich alles Mögliche vor. Und es passierte mir nichts, außer, dass ich nach dem zweiten Schnaps besserer Stimmung verfiel und keine Angst mehr verspürte, gegeißelt, verschleppt und missbraucht zu werden.
Ich entkam dem Trubel vor der ersten leichten Trunkenheit, die einen unvorsichtig werden lässt, in Richtung Strand, wo ich die erste Woche in Swansea wohnte. Ich wollte über uns beide nachdenken. Ich wollte auf das Geheimnis deiner Dichtung kommen. Ich wollte sehen, wie man hier auf den unrechten Pfad kommen kann, zum Säufer wird. Ich saß da, ich schrieb etwas auf, ich trank und der Morgen weckte mich. Die Wellen waren ganz dicht an mich herangerückt. Die Wellen leckten am Gebüsch vor dem Haus. Als wollten sie sich den deutschen Gast näher ansehen, reckten sie ihre Schaumköpfe. Wind war zu hören. Ich öffnete das große Fenster, lauschte dem Meer und saß dann über dem Stadtplan. Ich wollte durch deinen Ort gehen, zum Park deiner Kindheit, an ihm gelegen dein Geburtshaus. Du kennst das. Der Treffpunkt der Kindheit. Mit den Jungs. Vielleicht habt ihr ja auch hier heimlich gesoffen. Wein und bittere Schokolade? Ich habe dann auch den Park besucht, weil ich Zeit hatte und ganz lose mit Annie X verabredet war, die dein Geburtshaus wieder liebevoll hergerichtet hat. Ich sage das, weil ich dein Kind bin, du mein Vater bist, im Dichten und Saufen. Du würdest dich wohlfühlen, könntest du es sehen.
Nach und nach bin ich immer mehr du geworden. Es ist nicht schön, zu merken, wie wenig man selber nicht mehr Herr seiner Selbst ist, wenn man mehr und mehr ein anderer wird. Ich bin schon lange nicht mehr auf meinen Beinen. Ich interessiere mich für Dinge, für die ich mich nie interessieren wollte. Whisky zum Beispiel trinke ich nur, weil du ihn getrunken hast. Achtzehn Whiskys zum schlimmen Ende. »Rekord!«, hast du ausgerufen. Und bist dann ins Koma gefallen. Aber wem erzähle ich das. Du weißt es, obwohl du es nicht wissen kannst, weil du rein vom medizinischen Standpunkt nicht aufnahmefähig gewesen sein sollst. Ich habe es dir schon mehrfach gesagt: Du bist am Suff gestorben. Du wirst noch erleben, wie ich am Schreiben sterbe.
Ich bin in den Markt gegangen, die runden süßen Kekse essen, die hier Pflicht sind und typisch für die Region. Mit Rosinen. Und dann die schwarze Paste, sehr schwarz und sehr gewöhnungsbedürftig. Und zog weiter, die Einkaufsstraße hoch, in diesen und jenen Second-Hand-Laden unterwegs, wo ich nach T-Shirts Ausschau hielt, die mir stehen und Erinnerung an die Tage sind. Und fand dann eines, das einen verrückten Hund darstellte. Das war die Verbindung, zu dir, mir und dem Buch, das ich von dir gelesen hatte. Das des jungen Hundes, du weißt. Ich weiß nicht, wenn Saufen die Leprakrankheit wäre, wir würden saufen und schreiben, bis uns die Finger abfallen.
Und dann irrte ich ein wenig begriffsstutzig umher und geriet in eine Sackgasse und auch vom Wege ab. Musste umkehren. Musste mich neu orientieren. Musste mich durchfragen. Und kam dann auf den richtigen Pfad. Es ging arg bergan. Und ich dachte daran, dass du von Tibet, den Sherpas gesprochen hast, von denen man einer sein muss, hier herauf zu klettern. Unsere Schreibbuden sind in Trinkkellern untergebracht, dachte ich die ganze Zeit. Wir schreiben, wie andere Wein kosten, und trinken, wie andere Bücher verschlingen. Und wir sind der Meinung, unsere Kunst würde durch Gärung angehalten. Und die Frucht zergeht auf der Zunge. Und die Augen werden geschlossen, weil sie genügend gelesen und zugesehen haben, beim Schreiben. Man kann fast durch uns hindurchschauen, wenn wir vollgesogen sind mit Schnaps. Wir mögen den Schnaps mit Zitronenscheibe im Mund inhalieren. Wir müssen den Schnaps ins Warme tun, vielleicht unter der Bettdecke verbergen. Wir müssen unsere Kunst verbergen. Mit dem Nudelholz schreiben, glauben wir, wäre besser. Man ist nach dem Schreiben wie vom Saufen erschöpft. Schweigsam laufen die beiden Dinge wie Skibretter nebeneinander her. Das Schreiben ist gleichzeitig auch das Saufen. Der Suff macht uns das Denken leicht, das Schreiben das Leben schwer. Nach und nach kommt alles schwerwiegend zusammen. Leben ohne Mittagspause. Und fühlte mich als Bergsteiger, Neuland-Eroberer. Und dann gab es nur noch Reihenhäuser, Leerstand vor allem unter den Rechtsanwälten, die hier massenhaft aufgaben.
Und dann spürte ich, wie wir beide uns näherkamen. Da war ein Gebäude, das hätte deine Schule sein können. Damals, als du ein Knabe warst und in dieser Gegend nicht mehr so ganz naiv unterwegs. Denn du wirst den Schnaps so auch im Alter von zehn Jahren schon geschätzt haben, denke ich. Muss ja nicht grübeln. Muss ja nur auf mich sehen. Du bist wie ich. Ich habe alles von dir gelernt. Das Schreiben, das Saufen.
Und dann langte ich bei einer Kirche an, die leicht erhöht auf einem Buckelstück Land stand, von großen Bäumen bewacht. Bäume, unter deren Ästen du gegangen sein könntest, mit der Familie, wenn du kirchlich gebunden warst. Und endlich las ich deinen Namen auf einem Schild, das den Weg zu deinem Elternhaus wies. Und wieder endete der Aufstieg an einer Querstraße, die rechts ab auf jenen ummauerten Park stieß, der deiner, der unser Park ist. Links empor weiter die Straße hoch las ich Cwmdonkin Nummer fünf. Und ich wusste, ich war daheim. Und ich wusste ferner, es war noch viel zu früh für den Treff mit Annie X, weswegen ich liebend gern den Park aufsuchte. Es ging noch ein Stück bergan, links ab, zum oberen Eingang hinein. Auf verschwiegenen Pfaden unter Bäumen, zum Brunnen hin, aus dem du wohl hunderte Male getrunken hast. Oh herrlich kühles Nass, noch ohne Prozente.
Am Platz weilte ich, wo du oder ich oder wir oder doch wieder nur du stellvertretend für mich weiltest. Wo dieser alte Mann, der Parkwächter, gehaust haben wird, dessen ich mit dem Gedicht von dir gedachte, indem ich es hernahm und laut las. Ich war ja allein und dachte nicht daran, wie es anderen heimlichen Zuhörern mit meinem Vortrag ergeht, hörten sie mich in meinem schlimmen Englisch hier Dylan radebrechen.
Und dann stand ich an dem kleinen Pfuhl, dem lebendigen Tümpel und dem Stein davor. Auf ihm, verwittert und nicht zu entziffern, ein paar Zeilen von dir. Und ich musste darüber nachdenken, ob du vielleicht auch Frösche aufgeblasen hast, wie die Jungen in meinen Kindheitstagen? Strohhalm in den Hintern und Luft hinein, bis die Frösche sich blähten und platzten. Grausame Kindertage.
Ich ging da spazieren mit Musik im Kopf von Patti Smith. Die war in der Kapelle. Ganz nahe deinem und dem Grab deiner Frau hat sie gesungen. Für dich. Für uns. Für mich. Ich mag ja die Smith. Ich mag nicht alle Lieder. Ich bin gebrandmarkt. Die Smith gehört zu dir, zu mir, zu unserer Geschichte. Und ich dachte mir, ihr wäret gut klargekommen, hätte es die Zeit mit euch eingerichtet. Sie war ja in Laugharne und im Boathouse zu dir unterwegs, wie ich auch unterwegs bin zu dir, mich besser zu verstehen. Indem ich mich aufkläre, wer du bist, werde ich mich sammeln und dafür sorgen, dass wir nicht so schnell verschwunden sind.
Dylan, du. Laugharne stand als nächstes auf meinem Plan. Ich hatte keine Zeit dafür. Ich musste den Reiseplan einhalten. Ich war privat unterwegs. Ich war noch nicht als Einwanderer unterwegs. Ich musste von meinem Plan lassen. Ich musste Wales erst verlassen und dann wiederkommen, mit meiner Freundin. Um dann in deinem Haus (oder soll ich nicht gleich von unserem Geburtshaus reden. Meine Eltern sind dann deine Eltern) Fotos zu schießen. Bilder, die mich wie du aussehen lassen und meine Freundin Petra wie deine Caitlin.
Annie X hat uns bei dir wohnen lassen. Und wir haben Klamotten aus den Zweite-Hand-Läden gekramt, die deine Zeit einfangen halfen und Atmosphäre aufkommen lassen, beim Fotoshooting. Und ich gebe es gern zu. In bestimmten Momenten, wenn ich dich spielte und mich zurechtfand, meinte ich, du zu sein.
Dein Denkmal zeigt dich auf einem Stuhl sitzend. Die Haltung ist die des Mannes, der, zur Sitzkante vorgerückt, wohl im Aufstehen begriffen ist. Du hältst mit deiner Linken die vordere Lehne und deine rechte Hand liegt auf dem Knie. Wie als würdest du eben gesagt haben oder vorhaben zu sagen, dass du jetzt gehst. Und doch sitzt du fest auf dem Gestühl. Und dein Kopf ist seitlich abgewandt, nicht in Gehrichtung begriffen. Wie als würdest du auf einen Ruf warten, die Bitte, zu bleiben. Man kann diesen Zwischenzustand in deinem Gesicht entdecken.
Du sitzt auf dem Stuhl wie zwischen Stühlen. Du bist nicht weg und auch nicht mehr recht anwesend. Es zieht dich fort und es hält dich etwas zurück. Und genauso sehe ich das mit uns beiden. Wir schreiben und wollen nicht berühmt werden. Wir bringen Bücher zustande, die gelesen werden. Und dann wollen die Leute die Personen hinterm Text erleben und anfassen und ihnen sagen, wie toll sie uns finden.
Würdest du heute lesen und saufen, wir würden Hendrix hören. Und dann würden wir zu Lesungen gehen. Wir würden Maske tragen, dem Rummel des Ruhms zu entgehen. Das schafft man unter bestimmten Bedingungen schon. Wir würden saufen und anschreiben lassen. Wir würden kein Geld für unsere Lesungen nehmen. Wir würden sagen, wir seien Roboter. Wir würden stumme Lesungen veranstalten. Wir würden von Insekten leben. Wir sind hyperaktiv. Die Welt ist gewalttätig. Ich habe schon als Zeitungsausträger gearbeitet. Ich will nicht immer der Beste sein. Strenge Regeln mag ich wie du auch nur am Schreibtisch. Ich denke, wir mimen nur den Schreiberling. Wir könnten auch bester Anwalt sein, bester Baseballspieler. Egal. Auf dem gusseisernen Stuhl wirkst du in deinem Hemd und Schlips und der Weste wie zuhause in deiner Schreibbude. Und wirkst wie abwesend, fremd. Und siehst aus, als könntest du etwas entdeckt haben, eben. Da draußen in der Bucht, das du dir aus der Nähe betrachten willst. Nur deswegen willst du dein Sitzmöbel verlassen. Du könntest auch im Gespräch sein, etwas gesagt haben, auf Reaktion warten. Egal. Ich muss nicht dauernd über dich nachdenken und was sein könnte, wenn und aber abwägen, wo ich doch ein Säufer und Dichter wie du bin. Wir lieben das Schreiben, lieben das Saufen. Ich habe mir das letztere abgewöhnt, ein wenig. Ja, halbschwanger gibt es nicht, sagt man. Aber man sagt auch, der Mensch wäre gut, nur die Menschheit nicht. Man sagt ferner viel, wenn die Abenddämmerung naht. Man sagt, die Erde würde eines Tages platzen, laut knallend, wie ein Sektkorken wegfliegen und uns Menschen sprudeln lassen.
Und wie ich so vor dem Denkmal stehe, spüre ich mit einem Whisky im Kopf, eine andere Interpretation wäre zu denken. Ich meine plötzlich, du würdest eben dem Tod ins Gesicht blicken, ihn am Horizont sehen, zu ihm hinspringen wollen, dass er dich nicht vergisst, früher mit sich führt, als man so allgemein denkt von einem unter vierzig Jahren.
Oder der Tod blickt dich an, meint dich, hat zu dir leise genickt und dir bedeutet, dich zu erheben. Der Tod als Folge von deinem Übermut. Du wirst dich nun also still erheben und grußlos dem Tode nachfolgen, denke ich.
Ich weiß auch nicht, wie ich auf all diese Gedanken komme, wo ich doch etwas ganz anderes erzählen wollte. Nämlich davon reden, wie Suff und Schreiblust zusammengehören. Und nun rede und rede ich von Dylan, also von mir und dem Denkmal in Swansea und was mir durch den Kopf geht und vor allem Tod. Kann sein, sagt dein Blick, dass etwas von dir übrig bleibt, von dem, was du gedichtet, geschrieben hast. Sicher aber bist du dir da nicht. Und darum geht es auch nicht. Du sollst mit dem Tod gehen und keine Überlegungen anstellen, heißt es, die wichtigen Fragen ans Leben bitte erst nach deinem Tod stellen, weil sie dort dann besser zu beantworten sind.
Peter Wawerzinek, einen Tag vor dem 19. Februar 2014, wo doch die 19 meine Lieblingszahl ist.